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Baugenehmigung (Nachbarwiderspruch)- Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung

Verwaltungsgericht Schleswig-Holstein – Az.: 2 B 24/20 – Beschluss vom 21.07.2020

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig.

Der Streitwert wird auf 7.500 € festgesetzt.

Gründe

Das vorläufige Rechtsschutzgesuch des Antragstellers bleibt ohne Erfolg.

Der Antrag, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 08.05.2020 anzuordnen, ist, soweit der Antragsteller sich gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 26.03.2020 und die dazu unter dem 25.03.2020 erteilte Befreiung von der festgesetzten Zweigeschossigkeit (Az.: 4102/20) betreffend die Errichtung eines Mehrfamilienhauses A. auf dem Grundstück A. wendet, zulässig. Denn nach §§ 80 a Abs. 3 Satz 2, 80 Abs. 5 S. 1, 1. Alt. VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs in den Fällen anordnen, in denen die aufschiebende Wirkung nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 – 3 VwGO entfällt. Das ist der Fall, da dem Widerspruch des Antragstellers gegen die Baugenehmigung und die Befreiung nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO iVm § 212 a Abs. 1 BauGB keine aufschiebende Wirkung zukommt. Im Übrigen, d.h. soweit der Antragsteller sich darauf beruft, die Baugenehmigung beziehe sich auch auf das geplante und vom erteilten Bauvorbescheid umfasste Bauvorhaben A. (siehe Lageplan Bl. 16 d. Beiakte A) einschließlich der hierzu unter dem 25.03.2020 erteilten Befreiungsbescheide (Az.: 4099/20, 4100/20, 4101/20), ist der Antrag unzulässig, da dem Antragsteller hierfür kein Rechtsschutzbedürfnis zur Seite steht. Gegenstand der Baugenehmigung und des dieser zugrundeliegenden Bauantrages ist ausschließlich das Bauvorhaben A. Dem Bauantrag lässt sich zweifelsfrei entnehmen, dass der Bauantrag für das erste Wohngebäude A. gestellt wurde und für das A. ein gesonderter Bauantrag gestellt werden soll (Bl. 9 d. Beiakte A). Auch die vom Antragsteller eingereichten und vom Antragsgegner entsprechend genehmigten Bauunterlagen (Baubeschreibung, Bauzeichnungen, Brandschutznachweis etc.) beinhalten folgerichtig nur das Bauvorhaben „Wohnquartier A. mit 48 Wohnungen und einer Tiefgarage. Angesichts der für das A. fehlenden Baugenehmigung droht vorliegend kein Beginn von Baumaßnahmen, wogegen der Antragsteller um gerichtlichen Eilrechtsschutz nachsuchen müsste. Da es sich bei dem Vorhaben um kein genehmigungsfreigestelltes Vorhaben handelt, kann die Beigeladene die erteilten Befreiungsbescheide zur Umsetzung des Bauvorhabens „A. gegenwärtig nicht ausnutzen.

Der auf das genehmigte Bauvorhaben bezogene Antrag ist unbegründet.

Die gerichtliche Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ergeht auf der Grundlage einer umfassenden Interessenabwägung. Gegenstand der Abwägung sind das Interesse der beigeladenen Bauherrin an der sofortigen Ausnutzung der ihr erteilten Baugenehmigung einerseits und das Interesse des antragstellenden Nachbarn, von der Vollziehung der Baugenehmigung bis zur Entscheidung in der Hauptsache verschont zu bleiben, andererseits. Im Rahmen dieser Interessenabwägung können auch Erkenntnisse über die Rechtmäßigkeit oder die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, der vollzogen werden soll, Bedeutung erlangen, allerdings nicht als unmittelbare Entscheidungsgrundlage, sondern als in die Abwägung einzustellende Gesichtspunkte. Darüber hinaus ist in die Abwägung einzustellen, dass nach dem Willen des Gesetzgebers Widerspruch und Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens einschließlich der dazu erteilten Befreiungen von Bebauungsplanfestsetzungen gem. § 212a Abs. 1 BauGB keine aufschiebende Wirkung haben sollen und der Gesetzgeber damit dem Bauverwirklichungsinteresse grundsätzlich den Vorrang eingeräumt hat. Insofern kann das Gericht die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage nur anordnen, wenn auf Seiten des Antragstellers geltend gemacht werden kann, dass mit überwiegender Wahrscheinlichkeit seine Rechtsposition durch den Bau und die Nutzung des genehmigten Vorhabens unerträglich oder in einem nicht wiedergutzumachenden Maße beeinträchtigt bzw. gefährdet wird.

Dabei macht der Verweis auf die Rechtsposition des antragstellenden Nachbarn allerdings deutlich, dass bei baurechtlichen Nachbarrechtsbehelfen nicht allein die objektive Rechtswidrigkeit der angefochtenen Baugenehmigung in den Blick zu nehmen ist, sondern dass Rechtsbehelfe dieser Art nur erfolgreich sein können, wenn darüber hinaus gerade der widersprechende Nachbar in subjektiv-öffentlichen Nachbarrechten verletzt ist. Ob die angefochtene Baugenehmigung insgesamt objektiv rechtmäßig ist, ist nicht maßgeblich. Vielmehr ist die Baugenehmigung allein daraufhin zu untersuchen, ob sie gegen Vorschriften verstößt, die dem Schutz des um Rechtsschutz nachsuchenden Nachbarn dienen. Der Nachbar kann sich nur auf solche Interessen berufen, die das Gesetz im Verhältnis der Grundstücksnachbarn untereinander als schutzwürdig ansieht. Dabei ist für die Beurteilung der Verletzung von öffentlich-rechtlich geschützten Nachbarrechten durch eine Baugenehmigung allein der Regelungsinhalt der Genehmigungsentscheidung maßgeblich. Eine hiervon abweichende Ausführung kann die Aufhebung der Baugenehmigung demgegenüber nicht rechtfertigen.

Nach diesem Maßstab überwiegt vorliegend das Interesse der Beigeladenen, die Baugenehmigung unter Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 44, 1. Änderung und Ergänzung hinsichtlich der Geschossigkeit ungeachtet des Widerspruchs des Antragstellers ausnutzen zu können. Denn bei der in diesem Verfahren nur möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage lässt sich nicht mit hinreichender, d. h. überwiegender Wahrscheinlichkeit feststellen, dass die angefochtene Baugenehmigung vom 26.03.2020 sowie die erteilte Befreiung des Antragsgegners vom 25.03.2020 Nachbarrechte des Antragstellers verletzen.

Ein Verstoß der im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren gemäß § 69 LBO erteilten Baugenehmigung gegen nachbarschützende Vorschriften des insoweit allein maßgeblichen Bauplanungsrechts lässt sich nicht feststellen.

Der Antragsteller kann sich nicht mit Erfolg auf einen sog. Gebietserhaltungs- oder Gebietsbewahrungsanspruch berufen. Dieser Anspruch wird durch die Zulassung eines mit der Gebietsart unvereinbaren Vorhabens ausgelöst, weil hierdurch eine „Verfremdung“ des Gebiets eingeleitet und damit das nachbarliche Austauschverhältnis gestört wird. Jenes beruht auf dem Gedanken, dass sich jeder Grundstückseigentümer davor schützen können muss, dass er über die durch die Festsetzung einer Gebietsart normierte oder aus einer faktisch vorhandenen Gebietsart sich ergebenden Beschränkung seiner Baufreiheit hinaus durch eine nicht zulässige Nutzung eines anderen Grundstückseigentümers nochmals zusätzlich belastet wird (BVerwG, Urteil v. 16.9.1993 – 4 C 28.91 -, Rn. 12; Schl.-Holst. OVG, Beschluss v. 07.06.1999 – 1 M 119/98 -, Rn. 1, alle juris). Ein solcher Abwehranspruch steht indes nur Grundstückseigentümern zu, deren Grundstücke in demselben Baugebiet liegen. Denn nur diese sind zu einer wechselbezüglichen Schicksalsgemeinschaft verbunden, welche nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts den beeinträchtigungsunabhängigen Gebietserhaltungsanspruch begründet. Vorliegend liegen das Grundstück des Antragstellers und das streitbefangene Grundstück zwar in einem Plangebiet, nämlich des Bebauungsplans Nr. 44, 1. Änderung und Ergänzung. Sie sind jedoch in Anbetracht der im Bebauungsplan enthaltenen Darstellung der öffentlichen Verkehrsflächen und der vorzufindenden Baunutzungsschablonen nicht innerhalb eines Baugebietes belegen. So wird aus den dargestellten Straßenverkehrsflächen in der Planzeichnung deutlich, dass das Plangebiet drei unterschiedliche Baugebiete enthält, was wiederum durch die drei Baunutzungsschablonen kenntlich gemacht worden ist. Die Abgrenzung der unterschiedlichen Baugebiete muss nicht zwingend durch eine „Knödellinie“ bzw. „Perlenschnur“ iSd Ziff. 15.14 der Anlage zur PlanzV in der Planzeichnung ausgewiesen sein. Insoweit ist der Plangeber nicht strikt an die in der Anlage zur Verordnung enthaltenen Planzeichen gebunden, da die in der Anlage zur Planzeichenverordnung enthaltenen Planzeichen in den Bauleitplänen nach § 2 Abs. 1 Satz 1 PlanzV lediglich verwendet werden „sollen“. Es reicht aus, wenn aus der Darstellung im Bebauungsplan die Abgrenzung der unterschiedlichen Baugebiete – wie hier – hinreichend erkennbar ist (vgl. Saarländ. OVG, Urteil v. 19.03.2015 – 2 C 382/13 -, Rn. 88, juris). Eine andere Bewertung folgt auch nicht aus dem Umstand, dass für die drei betroffenen Bereiche mit der Ausweisung jeweils eines Mischgebiets (MI) insoweit die gleiche Festsetzung über die Art der baulichen Nutzung getroffen ist (vgl. Schl.-Holst. VG, Beschluss v. 14.12.2012 – 2 B 67/12 -, n.v.). Für den Antragsteller käme deshalb allenfalls ein gebietsüberschreitender Gebietserhaltungsanspruch in Betracht. Ein solcher Anspruch besteht aber nur, wenn die Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung nach dem Willen des Plangebers auch Grundstückseigentümern außerhalb des Gebiets Drittschutz vermitteln sollen (BVerwG, Beschluss v. 10.01.2013 – 4 B 48.12 – Rn.5, juris). Hierfür liegen jedoch keinerlei Anhaltspunkte vor.

Unabhängig davon wäre aber auch bei unterstellter Annahme nur eines Baugebietes im Geltungsbereich des Bebauungsplans eine Verletzung des Gebietserhaltungsanspruches zu verneinen. Das geplante Mehrfamilienhaus ist als Wohngebäude in einem Mischgebiet gemäß § 6 Abs. 1 BauNVO allgemein zulässig. Das Mischgebiet dient nach § 6 Abs. 1 BauNVO dem Wohnen und der Unterbringung von Gewerbebetrieben, die das Wohnen nicht wesentlich stören. Kennzeichnend für den Baugebietstyp „Mischgebiet“ ist die Gleichwertigkeit und Gleichgewichtigkeit von Wohnen und das Wohnen nicht störendem Gewerbe. Die beiden Nutzungsarten müssen im Mischgebiet durchmischt sein. Dies bedeutet eine quantitative und qualitative Durchmischung von Wohn- und Gewerbenutzung. Für die notwendige quantitative Mischung kommt es darauf an, in welchem Verhältnis die dem Wohnen und die gewerblichen Zwecken dienenden Anlagen im Baugebiet nach Anzahl und Umfang zueinanderstehen. Die beiden Hauptnutzungsarten müssen nicht zu genau oder annähernd gleichen Anteilen im jeweiligen Gebiet vertreten sein. Auf der anderen Seite wird jedoch die Bandbreite der typischen Eigenart des Mischgebiets, soweit es um die quantitative Seite des Mischungsverhältnisses geht, nicht erst dann verlassen, wenn eine der beiden Hauptnutzungsarten als eigenständige Nutzung im Gebiet völlig verdrängt wird und das Gebiet deshalb in einen anderen Gebietstyp „umkippt“. Erforderlich ist, dass im jeweiligen Gebiet eine der beiden Hauptnutzungsarten nicht nach Anzahl und/oder Umfang beherrschend und in diesem Sinne „übergewichtig“ in Erscheinung tritt, d.h. es darf keine der Nutzungsarten ein deutliches Übergewicht über die andere gewinnen.(zur Eigenart eines Mischgebiets: BVerwG, Beschluss v. 11.04.1996 – 4 B 51.96 -, Rn. 5 f., juris; Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 137. EL, Februar 2020, § 6 BauNVO Rn. 10b). Gemessen an diesen Maßstäben ist nicht davon auszugehen, dass mit der Genehmigung des Vorhabens der Beigeladenen die Wohnnutzung in dem Mischgebiet ein derartiges Übergewicht erhält, dass sich das Gebiet in Richtung einer ausschließlichen Wohnnutzung entwickelt. Entgegen den Ausführungen des Antragstellers ergibt sich nach Auswertung der auf Google Maps verfügbaren Luftbilder sowie der von der Beigeladenen eingereichten Lichtbildaufnahmen eine ausreichende Durchmischung von gewerblicher Nutzung und Wohnnutzung im Baugebiet. Denn es befinden sich innerhalb des Gebiets – sofern bei der hier vorzunehmenden Bewertung eines Gebietserhaltungsanspruches das gesamte Plangebiet zugrunde gelegt wird – neben Wohngebäuden eine Vielzahl an mischgebietstypischen Betrieben. Entlang der A. sind zahlreiche kleinere und einige wenige größere Gewerbebetriebe anzutreffen (Aldi-Markt, Sonnenstudio, Autoreparatur, Getränkemarkt, Kampfsportschule, Autohändler, Bekleidungsgeschäft). Auch unter Berücksichtigung des Umfanges des geplanten Mehrfamilienhauses steht mangels optisch dominierender Wirkung des Bauvorhabens nicht zu befürchten, dass gleichsam eine schleichende Änderung im Sinne eines „Umkippens“ eingeleitet werden könnte.

Soweit der Antragsteller im Hinblick auf das genehmigte Bauvorhaben die Befreiung von der im Bebauungsplan festgesetzten Zweigeschossigkeit beanstandet, fehlt es ebenfalls an einer Verletzung von Nachbarrechten. Bei einer Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplans hängt der Umfang des Rechtsschutzes davon ab, ob die Festsetzungen, von deren Einhaltung befreit wird, dem Nachbarschutz dienen. Wird von einer nachbarschützenden Festsetzung befreit, führt jeder Fehler bei der Anwendung des § 31 Abs. 2 BauGB zur Aufhebung der Baugenehmigung (vgl. BVerwG, Beschluss v. 27.08.2013 – 4 B 39.13 -, Rn. 3, juris). Der hier gerügten Befreiung von Festsetzungen im Bebauungsplan, die das Maß der baulichen Nutzung auf der Vorhabenfläche betreffen, kommt nicht kraft Gesetzes nachbarschützende Wirkung zu. Denn Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung lassen in aller Regel den Gebietscharakter unberührt und haben lediglich Auswirkungen auf das Baugrundstück und die unmittelbar anschließenden Nachbargrundstücke. Das Oberverwaltungsgericht Schleswig erkennt auch nach Ergehen der sog. „Wannsee-Entscheidung“ einen aus Bundesrecht abgeleiteten Gebietserhaltungsanspruch hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung nach wie vor nicht an, sondern leitet den Drittschutz von Maßfestsetzungen von einer entsprechenden Zwecksetzung der Gemeinde ab (vgl. Schl.-Holst. OVG, Beschluss v.12.05.2020 – 1 MB 9/20 – Rn. 7 mit Verweis auf Nieders. OVG, Beschluss v. 09.03.2020 – 1 ME 154/19 -, Rn. 8, beide juris). Es lässt sich weder dem Bebauungsplan Nr. 44, 1. Änderung und Ergänzung selbst noch dessen Begründung im Ansatz entnehmen, dass die Maßfestsetzungen auch nachbarrechtlichen Drittschutz vermitteln sollen. Die vom Antragsteller insoweit zitierte Passage aus der Planbegründung macht vielmehr gerade deutlich, dass jene Festsetzung zum Maß der baulichen Nutzung der Gestaltung des Stadtbildes und damit allgemeinen städtebaulichen Zielen dienen soll und gerade nicht ausnahmsweise dem Schutz eines bestimmbaren und von der Allgemeinheit abgrenzbaren Personenkreises. Auch die vom Antragsteller herangezogene Entscheidung des OVG Hamburg rechtfertigt keine andere rechtliche Bewertung. Ungeachtet der Frage, ob dem in der Entscheidung vertretenen rechtlichen Ansatz überhaupt gefolgt werden kann, lässt sich schon nicht feststellen, dass die Planbetroffenen durch die vorliegenden Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung zu einer rechtlichen Schicksalsgemeinschaft aufgrund einer „spezifischen Qualität“ des Plangebiets – wie es in der Entscheidung gefordert wird – verbunden werden sollen, sodass den Festsetzungen nach ihrem objektiven Gehalt eine Schutzfunktion zugunsten des so geschaffenen Austauschverhältnisses zukäme (vgl. Hamb. OVG, Beschluss v. 25.06.2019 – 2 Bs 100/19 -, Rn. 29, juris). Daher entfalten die Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung hier nicht ausnahmsweise nachbarschützende Wirkung. Eine fehlerhafte Befreiung von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung löst einen Abwehranspruch des Nachbarn allerdings nur aus, wenn die Behörde bei ihrer Ermessensentscheidung über die Befreiung nicht die gebotene Rücksicht auf nachbarliche Interessen genommen hat. Die Entscheidung der Behörde über die Befreiung muss gemäß § 31 Abs. 2 BauGB „unter Würdigung der nachbarlichen Interessen“ mit den öffentlichen Belangen vereinbar sein. Eine Nachbarrechtsverletzung ist nicht schon dann gegeben, wenn die Befreiung aus irgendeinem Grund rechtswidrig ist, sondern nur, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt ist, mithin das Gebot der Rücksichtnahme missachtet wird (vgl. Schl.-Holst. OVG, Beschluss v. 17.07.2018 – 1 MB 21/17). Die Überschreitung der planungsrechtlich zulässigen Zahl der Vollgeschosse erweist sich indes nicht in diesem Sinne als rücksichtslos. Wie der Antragsgegner zutreffend ausgeführt hat, wirkt sich die Zahl der Vollgeschosse primär auf die Gliederung des Baukörpers aus. Die maximale Firsthöhe von 12 m wird hingegen nicht überschritten, sodass eine konkrete Beeinträchtigung des Antragstellers durch die Überschreitung der zulässigen Zahl der Vollgeschosse nicht ersichtlich ist. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich das Grundstück des Antragstellers nicht unmittelbar angrenzend an das betroffene Grundstück befindet, sondern nordöstlich vom Bauvorhabenstandort versetzt liegt. Die vom Antragsteller gerügte Ermessensausübung des Beklagten im Rahmen der Befreiungsentscheidung vermag seinem einstweiligen Rechtsschutzantrag darüber hinaus ebenfalls nicht zum Erfolg zu verhelfen. Denn ein Nachbar kann eine unter Verstoß gegen eine nicht nachbarschützende Festsetzung eines Bebauungsplans erteilte Baugenehmigung selbst dann, wenn die Baugenehmigungsbehörde eine an sich erforderliche Befreiung überhaupt nicht erteilt hat, wenn also die für eine Befreiung notwendige Ermessensentscheidung überhaupt nicht getroffen worden ist, nur wegen einer Verletzung des Rücksichtnahmegebots erfolgreich anfechten (BVerwG, Urteil v. 06.10.1989 – 4 C 14.87 – Rn. 16; BVerwG, Beschluss vom 08.07.1998 – 4 B 64/98 – Rn. 7, beide juris). Abgesehen davon, dass der Antragsgegner jedenfalls zwischenzeitlich Ermessenserwägungen zur Befreiungsentscheidung nachgeschoben hat, ist ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot – wie ausgeführt – nicht auszumachen.

Der Antragsteller kann auch aus einer angeblich nicht ordnungsgemäßen Antragstellung hinsichtlich des Befreiungsantrages nichts für sich ableiten. Selbst wenn – was vorliegend bereits nicht der Fall ist – fehlende Formerfordernisse vorliegen würden, kann der Antragsteller allein wegen der Verletzung einer Verfahrensvorschrift einen nachbarrechtlichen Abwehranspruch hierauf nicht stützen. Vorschriften über die Einreichung von Bauvorlagen haben keinen nachbarschützenden Charakter, sondern dienen dem öffentlichen Interesse an der Durchführung von ordnungsgemäßen Baugenehmigungsverfahren.

Unter Berücksichtigung der weiteren vom Antragsteller geltend gemachten Einwände erweist sich das genehmigte Mehrfamilienwohnhaus der Beigeladenen auch sonst nicht als rücksichtslos. Das geplante Wohnhaus verletzt hinsichtlich seiner Länge von 59,10 m nicht das Rücksichtnahmegebot. Der Einwand des Antragstellers, das Vorhaben widerspreche angesichts der bautechnischen Größe der Eigenart des Baugebiets, weil es sich bei dem geplanten Baukörper um kein Einzelhaus gemäß § 22 Abs. 2 Satz 2 BauNVO mit einer maximalen Länge von 50 m handele, greift nicht durch, da der hier zu berücksichtigende Bebauungsplan Festsetzungen zur Bauweise nicht enthält. Die planungsrechtliche Zulässigkeit richtet sich ausschließlich nach den Festsetzungen des Bebauungsplans, sodass es nicht ergänzend auf die Einfügenskriterien nach § 34 Abs. 1 BauGB ankommt. Diese können nur bei einfachen Bebauungsplänen gemäß § 30 Abs. 3 BauGB herangezogen werden (vgl. Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 137. EL, Februar 2020, § 30 BauGB Rn. 6). Vorliegend handelt es sich hingegen um einen abschließenden qualifizierten Bebauungsplan nach § 30 Abs. 1 BauGB, da dieser Festsetzungen über die Art und das Maß der baulichen Nutzung, die überbaubaren Grundstücksflächen und die öffentlichen Verkehrsflächen enthält.

Das geplante Mehrfamilienhaus verstößt aber hinsichtlich seiner Ausmaße auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer optisch bedrängenden Wirkung gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Eine optisch bedrängende Wirkung wird angenommen, wenn dem Bauvorhaben wegen seiner Höhe und Breite gegenüber dem Nachbargrundstück eine „erdrückende“ bzw. „erschlagende“ Wirkung zukommt (vgl. BVerwG, Urteile v. 13.03.1981, – 4 C 1.78 -, sog. „Hochhaus-Fall“ und v. 23.05.1986, – 4 C 34.85 -, sog. „Silo-Fall“). Dies ist insbesondere anzunehmen, wenn die baulichen Dimensionen des „erdrückenden“ Gebäudes aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalles derart übermächtig sind, dass das „erdrückte“ Gebäude oder Grundstück nur noch überwiegend wie eine von einem herrschenden Gebäude dominierte Fläche ohne eigene baurechtliche Charakteristik wahrgenommen wird, oder das Bauvorhaben das Nachbargrundstück regelrecht abriegelt, d. h. dort das Gefühl des Eingemauertseins oder eine Gefängnishofsituation hervorruft. Dem Grundstück muss gleichsam die Luft zum Atmen genommen werden. Dass das Vorhaben die bislang vorhandene Situation lediglich verändert und dem Nachbarn unbequem ist, reicht nicht aus. Die in den gewählten Ausdrücken bzw. Bildern („Gefängnishofsituation“, „Eingemauertsein“, „erdrücken“, „erschlagen“, „Luft zum Atmen nehmen“) liegende „Dramatik“ ist danach vielmehr ernst zu nehmen (Beschluss der Kammer vom 21.02.2011 – 2 B 8/11 – m.w.N.). Diese Voraussetzungen liegen hier angesichts der Lage und Entfernung des Vorhabens zum Wohnhaus des Antragstellers von ungefähr 45 m offenkundig nicht vor.

Das vorläufige Rechtsschutzgesuch des Antragstellers war nach alledem mit der sich aus § 154 Abs. 1 VwGO ergebenden Kostenfolge abzulehnen.

Es entsprach hier der Billigkeit, die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen für erstattungsfähig zu erklären (§ 162 Abs. 3 VwGO), weil sie sich durch das Stellen eines eigenen Sachantrages nach § 154 Abs. 3 VwGO am Kostenrisiko des vorliegenden Verfahrens beteiligt hat.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 63 Abs. 2 GKG. Dabei bemisst die Kammer den Streitwert in Eilrechtsschutzverfahren regelmäßig mit der Hälfte des Wertes des entsprechenden Hauptsacheverfahrens, der hier mit 15.000,00 € in Ansatz gebracht worden ist.

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