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Anfechtung einer Baugenehmigung – nachbarrechtlicher Gebietserhaltungsanspruch

VG Göttingen – Az.: 2 B 202/11 – Beschluss vom 31.10.2011

Gründe

Der Antrag der Antragstellerin, die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs vom 22. Juni 2011 gegen die dem Beigeladenen von der Antragsgegnerin am 3. Mai 2011 erteilte Baugenehmigung anzuordnen, hat keinen Erfolg.

Der Antrag ist gemäß §§ 80 a, 80 Abs. 5 VwGO, 212 a BauGB statthaft und auch im Übrigen zulässig. Er ist jedoch nicht begründet.

In dem Verfahren auf Gewährung einstweiligen (Nachbar-) Rechtsschutzes hat das Verwaltungsgericht eine eigene Ermessensentscheidung zu treffen, wobei das Interesse des Nachbarn an einer vorläufigen Einstellung der von ihm für rechtswidrig gehaltenen Nutzung gegen das Interesse des Bauherrn an der umgehenden Nutzung wie beabsichtigt abzuwägen ist. Dabei kommt es im Regelfall darauf an, ob dem Nachbarwiderspruch hinreichende Erfolgsaussichten beizumessen sind, ob also die Verletzung (mindestens) einer nachbarschützenden Vorschrift durch das Bauvorhaben überwiegend wahrscheinlich ist. Die Kammer ist nach der in diesem Verfahren nur gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage der Auffassung, dass die vom Beigeladenen beabsichtigte Nutzung der vor dem Gebäude H. 9 in D. gelegenen 4 Stellplätze Nachbarrechte der Antragstellerin nicht verletzt.

Das von der Antragsgegnerin genehmigte Vorhaben des Beigeladenen, vier Stellplätze vor dem Gebäude H. 9 in D. als Übergabestelle für Kraftfahrzeuginternethandel zu nutzen, verstößt nicht gegen den allein als nachbarschützend in Betracht zu ziehenden Gebietserhaltungsanspruch des Nachbarn. Dieser Anspruch gibt den Eigentümern von Grundstücken in einem durch Bebauungsplan festgesetzten Baugebiet das Recht, sich gegen Vorhaben zur Wehr zu setzen, die hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nicht zulässig sind. Der Anspruch ist eine Folge davon, dass sowohl faktische als auch festgesetzte Baugebiete kraft Gesetzes dem Schutz aller Eigentümer der in dem Gebiet gelegenen Grundstücke dienen. Die weitreichende nachbarschützende Wirkung beruht auf der Erwägung, dass die Grundstückseigentümer durch die Lage ihrer Anwesen in demselben Baugebiet zu einer „bau- und bodenrechtlichen Schicksalsgemeinschaft“ verbunden sind, bei der jeder in derselben Weise berechtigt und verpflichtet ist. Im Hinblick auf diese wechselseitig wirkende Bestimmung von Inhalt und Schranken des Grundeigentums nach Artikel 14 Abs. 1 S. 2 GG hat jeder Eigentümer – unabhängig von einer konkreten Beeinträchtigung – das Recht, sich gegen eine schleichende Umwandlung des Gebiets durch Zulassung einer gebietsfremden Nutzung zur Wehr zu setzen (vgl. zuletzt Urteil der beschließenden Kammer vom 23.06.2010 – 2 A 147/09 -; Beschluss vom 15.03.2010 – 2 B 139/10 -, m.w.N. aus der Rechtsprechung des OVG Lüneburg und des Bundesverwaltungsgerichts).

Das streitbefangene Grundstück liegt im Geltungsbereich des Bebauungsplanes Nr. 75 „Osttangente“ Teilplan Nord 2. Änderung der Antragsgegnerin von Januar 1972; die Fläche ist darin als Allgemeines Wohngebiet -WA-Gebiet- ausgewiesen. Gemäß § 4 Abs. 1 BauNVO dienen Allgemeine Wohngebiete vorwiegend dem Wohnen. Gemäß Absatz 3 Nr. 2 der Bestimmung können ausnahmsweise zugelassen werden sonstige nicht störende Gewerbebetriebe. Die Antragsgegnerin hat auf Antrag des Beigeladenen eine Übergabestelle im Umfang von vier vor dem Gebäude befindlichen Stellplätzen für Kfz-Handel zugelassen. Eine solche Übergabestelle, deren nachbarrelevante Auswirkungen sich darin erschöpfen, dass Fahrzeuge an- und abfahren und in sie eingestiegen und aus ihnen herausgestiegen wird, ist Teil eines nicht störenden Gewerbebetriebs in diesem Sinne. Die Auswirkungen einer solchen Übergabestelle sind nicht andere als die von an- und abfahrenden Bewohnern der Wohnhäuser ausgehenden Emissionen, die zwangsläufig mit dem (im WA Gebiet erlaubten) Wohnen verbunden sind.

Entgegen der Annahme der Antragstellerin wäre auch ein Kraftfahrzeughandel im klassischen Sinne, wie ihn der Beigeladene ihrer Auffassung nach in Abweichung von der Baugenehmigung vom 3. Mai 2011 auf dem Grundstück H. 9 betreibt, nicht baurechtswidrig.

Grundsätzlich ist der bauaufsichtlichen wie der gerichtlichen Kontrolle nur eine bestimmungsgemäße Nutzung zugrunde zu legen. Der Bauherr bestimmt mit seinem Bauantrag das zu beurteilende Bauvorhaben, wobei auf den objektiv erkennbaren Nutzungszweck abzustellen ist (BVerwG, Urteil vom 29.4.1992 -4 C 43/89-, BVerwGE 90, 140). Dementsprechend kann sich ein Nachbar grundsätzlich nicht gegen ein ordnungsrechtswidriges Verhalten möglicher Nutzer dadurch zur Wehr setzen, dass er die Baugenehmigung für ein Vorhaben angreift, dessen Nutzung – möglicherweise – ein Verhalten nach sich zieht, welchem nur mit den Mitteln des Ordnungsrechts zu begegnen ist. Eine Ausnahme gilt aber insbesondere dann, wenn sich der Träger des Vorhabens diese rechtswidrigen Nutzungen zurechnen lassen muss. Das gilt insbesondere dann, wenn sich gerade in dem Missbrauch eine mit der Einrichtung geschaffene besondere Gefahrenlage ausdrückt und der Missbrauch deshalb bei einer wertenden Betrachtung als Folge des Betriebes der angegriffenen Einrichtung anzusehen ist (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 25.9.2002 -1 MB 3531/01-; OVG Münster, Urt. v. 16.9.1985 – 15 A 2856/83 -, DVBl. 1986, 697).

Im Ergebnis zu Unrecht sieht die Antragstellerin dieses Voraussetzungen als gegeben an. Es ist allerdings nach den Einlassungen des Beigeladenen nicht zu verkennen, dass er selbst nicht von einer reinen Übergabe von Fahrzeugen ausgeht, wenn er im Schriftsatz vom 24. Oktober 2011 seine Tätigkeit als kleinen unauffälligen Kfz-Handel beschreibt. Ein Missbrauch im Sinne der dargestellten Rechtsprechung ist jedoch hier deshalb auszuschließen, weil die Tätigkeit des Beigeladenen selbst dann zulässig wäre, wenn es sich dabei um einen Kfz-Handel im “klassischen“ Sinne handelte. Denn auch dies stellte einen nicht störenden Gewerbebetrieb im Sinne von § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO dar.

Die Frage der Gebietsverträglichkeit einer Nutzung, d.h. wie “störend“ ein Betrieb sich auf die Umgebung auswirkt, ist an der spezifischen Zweckbestimmung des jeweiligen Baugebiets zu messen, die dessen Charakter zugleich eingrenzend bestimmt. Die hier in § 4 Abs. 1 BauNVO normierte allgemeine Zweckbestimmung des Wohnens und der hierin liegende Funktionswert bleiben auch für die Auslegung und Anwendung der tatbestandlich geregelten Ausnahmen bestimmend. Da nach Möglichkeit ein ungestörtes Wohnen gewährleistet sein soll, beurteilt sich die Gebietsverträglichkeit in erster Linie nach dem Kriterium der gebietsunüblichen Störung. Das ist nicht nur mit der Einhaltung einer bestimmten immissionsschutzrechtlichen Lärmsituation gleichbedeutend. Vielmehr kann auch die durch eine bestimmte Nutzung in ein allgemeines Wohngebiet hineingetragene atypische Gebietsunruhe eine solche Störung sein (BVerwG, Urteil vom 21.3.2002 -4 C 1/02-, BVerwGE 116, 155). Maßgeblich sind bei der Beurteilung die Verhältnisse des Einzelfalls. Selbst wenn der Beigeladene auf den vier Stellplätzen einen Kfz-Handel betreiben würde, läge eine gebietsuntypische Störung des Allgemeinen Wohngebiets nicht vor.

Zum einen nutzt der Beigeladene keine gesonderten Grundstücksflächen für sein Unternehmen. Er stellt die Fahrzeuge auf Stellflächen ab, die zu den von ihm im Hause H. 9 angemieteten Räumen gehören. Eine nach außen erkennbare Einzäunung dieser Flächen erfolgt nicht. Ebenso wenig bewirbt der Beigeladene sein Unternehmen auf dem Grundstück. Schließlich gibt es keine gesonderten Verkaufsräume. Dass es sich um einen Kfz-Handel oder eine Übergabestelle für Kfz handelt, erkennt man nur daran, dass Fahrzeuge ohne Kennzeichen oder nur mit einem Überführungskennzeichen dort abgestellt sind. Ferner ist zu bedenken, dass es sich entsprechend dem Bauantrag des Beigeladenen lediglich um vier Stellplätze handelt, auf denen Fahrzeuge zum Verkauf angeboten werden oder übergeben werden sollen. Diese geringe Anzahl von Fahrzeugen ist weit entfernt von einem klassischen Gebrauchtwagenhandel, wie er Gegenstand der von der Antragstellerin für ihre Rechtsansicht zitierten Rechtsprechung gewesen ist. Hätte der Beigeladene nicht noch eine Betriebs- und Verkaufsstätte in einem Nachbarort, wäre der von ihm in der H. betriebene Handel finanziell kaum auskömmlich. Letztlich reduziert sich die Belastung für das Allgemeine Wohngebiet auf das Schlagen von Autotüren bzw. Motorhauben sowie das An- und Abfahren von wenigen Fahrzeugen. Diese Belastungen sind auch im Zusammenhang mit einer minimalen optischen Störung in einem Allgemeinen Wohngebiet mit seinen zahlreichen motorisierten Bewohnern keineswegs unüblich und deshalb nicht gebietsuntypisch.

Schließlich ergeben sich Abwehrrechte der Antragstellerin nicht aus dem in § 15 BauNVO festgelegten Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme (vgl. Schrödter, Baugesetzbuch, 7. Auflage, § 9 Rn. 152, § 34 Rn. 55; Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, § 34 Rn. 52 ff.). Nach dieser Vorschrift ist eine nach §§ 2 bis 14 BauNVO zulässige Nutzung im Einzelfall unzulässig, wenn sie nach Anzahl, Lage, Umfang oder Zweckbestimmung der Eigenart des Baugebiets widersprechen. Die Anlage darf zudem nicht zu unzumutbaren Belästigungen oder Störungen führen. Hierfür ist nach dem oben Gesagten nichts ersichtlich. Ergänzend ist an dieser Stelle nur auszuführen, dass die H. zahlreiche freiberufliche und gewerbliche Betriebe beherbergt, die mit erheblichem An- und Abfahrtverkehr sowie mit Kfz-typischen Geräuschen einhergehen und somit eine nicht unerheblich Vorbelastung des Gebiets festzustellen ist. Diese Vorbelastung wirkt sich im Rahmen des Rücksichtnahmegebots zusätzlich zugunsten des nichtstörenden Vorhabens des Beigeladenen aus.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen für erstattungsfähig zu erklären, weil er einen Sachantrag gestellt und sich damit einem eigenen Kostenrisiko ausgesetzt hat.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG. Das Gericht orientiert sich an den Streitwertannahmen der Bausenate des OVG Lüneburg (Nds. VBl. 2002, 129), die bei Anträgen von Nachbarn auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs gegen eine Baugenehmigung bei geltend gemachter Beeinträchtigung eines Einfamilienhauses einen Rahmen von 4.000,00 bis 30.000,00 Euro vorsehen. Da die Antragstellerin Eigentümerin eines Mehrfamilienhauses ist, hält es das Gericht für sachgerecht von einem Streitwert von 20.000,00 Euro für das Hauptsacheverfahren auszugehen, der im Hinblick auf die Vorläufigkeit der begehrten gerichtlichen Regelung zu halbieren ist.

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